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Vom Lieblingsthema zum Stiefkind

Voller Stolz hatte Gesundheitsminister Jens Spahn die „Digitalen Gesundheitsanwendungen“ (DiGA) als „Weltneuheit“ angekündigt. Doch ein knappes halbes Jahr nach der Einführung fristen die „Apps auf Rezept“ eher ein Schattendasein. Das liegt nicht zuletzt auch an deren Herstellern.

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Nach nur einem Jahr Vorbereitung war es am 6. Oktober 2020 soweit: Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat die ersten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) in das entsprechende Verzeichnis aufgenommen. In diesem „DiGA-Verzeichnis“ werden all jene digitale Gesundheitsanwendungen gelistet, wie Apps oder browserbasierte Anwendungen, die als Medizinprodukt mit niedrigem Risiko CE-zertifiziert sind und zusätzlich vom BfArM im Fast-Track-Verfahren geprüft wurden. Damit können sie vom Arzt verschrieben oder bei entsprechender Diagnose direkt von der gesetzlichen Krankenkasse erstattet werden.

Bislang sind elf DiGA beim BfArM verzeichnet, aus unterschiedlichen Versorgungbereichen: etwa zur Behandlung von Migräne oder von Fatigue bei Multipler Sklerose, zur Therapie von Angststörungen wie Platzangst oder Sozialphobien, zur Therapie bei psychischer Schlafstörung, zur Unterstützung der Gewichtsreduktion bei Adipositas oder zur Behandlung von Rücken-, Knie- und Hüftschmerzen. Etwa ein Dutzend steckt noch in der Zulassungsphase.

In absehbarer Zeit könnten noch wesentlich mehr dazu kommen: Eine Umfrage unter den Mitgliedsunternehmen des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller (BAH) vom Jahresbeginn 2021 ergab, dass mehr als die Hälfte der Mitgliedsfirmen bereits digitale Medizinprodukte beziehungsweise digitale Gesundheitsanwendungen entwickelt haben oder entwickeln werden. „Die Entwicklung von digitalen Gesundheitsanwendungen wird rasant zunehmen“, bestätigt Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BAH. „Wir rechnen damit, dass die meisten klassischen Arzneimittel-Hersteller auch digitale Gesundheitsanwendungen in ihr Portfolio aufnehmen.“

Die DiGA sind im Rahmen der digitalen Gesundheitsstrategie eines der Lieblingsthemen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der damit große Pläne verknüpft: „Dieses Verzeichnis soll für Ärztinnen und Ärzte zum Digital-Lexikon werden. Hier finden sie, welche Apps und digitalen Anwendungen verordnet werden können“, sagt er zum Start – und verwies stolz auf „eine Weltneuheit: Deutschland ist das erste Land, in dem es Apps auf Rezept gibt.“

Bis dahin war diese Art der medizinischen Therapie kaum verbreitet. Etwa 12 Prozent der Deutschen nutzten im Vorjahr digitale Gesundheitsanwendungen zur Überwachung oder Behandlung einer bestehenden Krankheit oder um eine Krankheit rechtzeitig zu erkennen. 40 Prozent ziehen in Betracht, sie in naher Zukunft zu verwenden. Das ergab eine Umfrage des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller (BAH) im Mai 2020. Grundsätzlich halten demnach zwei Drittel aller Befragten diese Art von Apps für sinnvoll.

„Verteilte Verantwortungslosigkeit“

Dieser grundsätzlich vorhandenen Akzeptanz zum Trotz kommt die „Weltneuheit“ kaum zur Entfaltung. Im Gegenteil: Bislang führt sie eher das Dasein eines Stiefkindes. Das liegt offenbar daran, dass die DiGA zwar enorm schnell in die Welt gesetzt wurden, aber sich nun niemand mehr so richtig um deren Aufzucht zu kümmern scheint. So sehen das zumindest Experten wie Dr. Alexander Schachinger, Geschäftsführer der EPatient Analytics GmbH, die seit 2010 jährlich eine Online-Befragung zum digitalen Gesundheitsmarkt – den EPatient Survey durchführt. „Da tut sich leider nicht so viel, wie erforderlich wäre, um Bekanntheit, Akzeptanz und Nutzung der DiGA zu fördern“, sagt er. Bundeärztekammer, Bundesministerium für Gesundheit, GKV-Spitzenverband, DiGA-Hersteller – wer den Hut auf habe, um die DiGA populärer zu machen, sei nicht erkennbar. Und der Experte wird noch deutlicher: „Wir registrieren da eher verteilte Verantwortungslosigkeit – von Kassen, Ärztekammern und DiGA-Herstellern gleichermaßen.“

Dabei tut Aufklärung Not: Der Umgang mit gesundheitsbezogenen digitalen Angeboten und Informationen fällt mehr als der Hälfte der Bürger schwer, so bundesweit repräsentative Daten zur digitalen Gesundheitskompetenz in Deutschland, die Ende 2020 von der AOK-Gemeinschaft vorgestellt wurden. „Während die Digitalisierung immer weiter voranschreitet, wächst die Gefahr, dass die Bürger nicht mehr mitkommen. Deshalb brauchen sie verlässliche und leicht verständliche Informationsangebote“, fordert etwa Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes.

Doch diese werden nicht offensiv gefördert: „Das ist eine sehr bescheidene Situation. Weder die Bevölkerung noch die Ärzte wissen ausreichend Bescheid über die DiGA. Es gibt auch keinen DiGA-Außendienst. Aber es ist Aufgabe der Hersteller, die Ärzte zu informieren und die DiGA populärer zu machen“, ist Dr. Hermann Kortland überzeugt. Dabei sehen auch Gesundheitspolitiker wie Maria Klein-Schmeink (Bündnis90/Grünen), Stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Gesundheitspolitik die Ärzteschaft als Transmissionsriemen für den Erfolg der DiGA: „Ein Teil der Unterstützung für digitale Kompetenz sollte direkt über Ärztinnen und Ärzte, Gesundheitsberufe und die Pflege kommen, die dafür geschult werden müssen.“

„Hinterhertragen werden wir sie den Patienten nicht“

Das ist vorerst reines Wunschdenken. Laut einer Studie des Digitalverbands Bitkom und des Ärzteverbunds Hartmannbund vom November 2020 ist gerade mal rund ein Viertel der deutschen Ärzte gewillt, solche Rezepte für Apps zu verschreiben. Und wie „bescheiden“ die Situation in der Praxis vor Ort ist, verdeutlicht ein offenes Gespräch mit Dr. Marc Metzmacher. Der Nürnberger Hausarzt betreibt eine akademische Lehrpraxis der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, ist Testpraxis für Praxisverwaltungssysteme und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Digitalisierung im Bayerischen Hausärzteverband. „Ja, man kann die DiGAs verschreiben“, sagt er. „Aber nachgefragt werden sie nicht. Und Hinterhertragen werden wir sie den Patienten auch nicht.“ Und legt nach: „Wir Ärzte erfahren grundsätzlich auch nicht, wenn es eine neue App gibt. Und schon als normaler Arzt wird man damit thematisch überfahren. Wir sind da schon im Stich gelassen. Die meisten werden dann auch nicht in der Lage sein, die App zu erklären. Aber ich kann tatsächlich auch darauf verzichten.“

Obwohl sich Dr. Metzmacher als „Fan der Digitalisierung“ sieht, sei er mit Kollegen nach einer Prüfung der ersten DiGA zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht sinnvoll sind. „Modern und teuer sind sie, aber helfen tun sie wenig. Ich sehe nicht wirklich den Nutzen. Wenn eine Rücken-App 300 bis 400 Euro pro Quartal kostet, kann ich den Patienten für solche Beträge lange Zeit zum Reha-Sport schicken, da hat der mehr davon.“

Roland Stahl, Pressesprecher Kassenärztliche Bundesvereinigung, ist auch klar, wer für diese „bescheidene Situation“ verantwortlich ist: „Wir appellieren an die Hersteller, dass sie die Ärzte besser informieren. Für die Ärzte ist das ja eine Herausforderung, wenn der Patient vor ihm sitzt und jetzt über eine App etwas wissen will. Da wäre es gut, wenn der Arzt die App zumindest kennt. Dass er sich in die Feinheiten der App einarbeiten kann, darf man ohnehin nicht erwarten. Aber dass die DiGA-Hersteller, die ja nicht alles kleine Klitschen, sondern auch namhafte Unternehmen sind, die Vielfalt der Kommunikationsmöglichkeiten nutzen und die Ärzte aufschlauen, sollte doch möglich sein.“ Mit welchen Kommunikationsstrategien und -Budgets die Hersteller bei Ärzten und Patienten Bekanntheit und Akzeptanz der DiGA fördern, ist unbekannt. Entsprechende Anfragen bei sechs der elf DiGA-Hersteller blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

„Keinerlei Informationen zu Zahlen bezüglich der DiGA“

Ein knappes halbes Jahr nach dem DiGA-Start zumindest einen Überblick über die aktuelle Zahl der entsprechenden Verordnungen zu bekommen, ist nahezu unmöglich. „Es gibt keine Informationsplattform, die deutlich macht, wie viele DiGAs verschrieben wurden“, bestätigt BAH-Vize Dr. Kortland. Dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) liegen zu den DiGA „keine abschließend aussagekräftigen Daten vor“, so Claudia Widmaier vom Stabsbereich Kommunikation. Julian Milde, Leiter der Geschäftsstelle beim Spitzenverband Digitale Gesundheit e.V. hat ebenfalls „keinerlei Informationen zu Zahlen bezüglich der DiGA“. Selbst im Bundesministerium für Gesundheit ist man Interesse am Spahnschen Lieblingsthema offenbar ermattet: „Wie oft DiGA bereits verordnet wurden, lässt sich aktuell noch nicht sagen“, so Ministeriumssprecherin Teresa Nauber kurz und knapp.

Immerhin: Bei den Ersatzkassen habe es bis Ende Januar etwa 1500 DiGA-Verordnungen gegeben, offenbart die Vorstandsvorsitzende des Verbands der Ersatzkassen (vdek) Ulrike Elsner. Und: „Bei der DAK wurden relativ wenig ärztliche Verordnungen für DiGAs eingereicht – es handelt sich um eine mittlere dreistellige Zahl“, so deren Sprecher Florian Kastl. Die TK hat seit Start der neuen Leistungsanwendung rund 1.000 Rezeptcodes an ihre Kunden ausgegeben und befindet sich mit dieser Ausgabemenge laut Angaben von Sprecherin Nicole Ramcke im vordersten Bereich. Die Hersteller von DiGAs wie deprexis, elevida, invirto, velibra, zanadio oder M-sense selber äußern sich weder zu Zahlen noch zu Kommunikationsmaßnahmen, mit denen sie die Ärzteschaft für ihre Produkte begeistern wollen. Kommunikation scheint dort überhaupt ein Fremdwort zu sein.

„Ich kann mir schon denken, warum von den Herstellern um die Zahlen so ein Geheimnis gemacht wird“, sagt Mina Luetkens, Mitgründerin und Sprecherin des Vereins in Gründung „Patienten für Digitale Gesundheit“ (P4D). Was sie damit meinen könnte: Deutschland hat als erstens Land der Welt digitale Gesundheitsanwendungen eingeführt, die Welt blickt auf Deutschland. Der Staat, Investoren und Hersteller haben Millionensummen investiert – und nun fällt es schwer, einzuräumen, dass sich der Erfolg nicht auf Anhieb einstellt. Womöglich auch aufgrund eigener Versäumnisse.

„Noch nicht bei den Bürgern angekommen“

Das übernehmen derweil andere. Julian Milde vom Spitzenverband Digitale Gesundheit e.V. etwa ist bemüht, die Ärzteschaft über die Leistungsfähigkeit der DiGAs aufzuklären. Seit deren Start im Oktober 2020 veranstaltet der Verband regelmäßig Online-Fortbildungen zum Thema „DiGA in der Praxis“, mit bis zu 350 Teilnehmern. Und er unterstützt die Arbeit von Mina Luetkens, die sich mit dem Verein in Gründung „Patienten für Digitale Gesundheit“ (P4D) auf die Fahnen geschrieben hat, die Gesundheitskompetenz der Bürger in ihrer Rolle als Patient*in für das Thema Digitale Gesundheit auszubauen.

„Digitale Gesundheit bedeutet mehr als die Einführung von Technologie oder Digitalisierung der bestehenden Prozesse. Wir wandeln unser Gesundheitssystem von einer linearen zu einer Netzwerk-Struktur, von bilateraler Interaktion zu echter Kollaboration. Das ist eigentlich großartig“, sagt Mina Luetkens. Über die unzureichende DiGA-Aufklärung kann sie nur den Kopf schütteln: „Kein Wunder ist das Thema Digitale Gesundheit noch nicht bei den Bürgern angekommen. Während die Experten über neue Produkte und Geschäftsmodelle nachdenken oder Chancen und Risiken eines Digitalen Gesundheitsmarktes diskutieren, tragen sie die DiGAs nicht in die Breite. Dabei sind die Bürger in ihrer Rolle als Patient Ziel jeder Gesundheitsintervention und zudem Grundlage der Geschäftsmodelle der DiGA-Hersteller.“

 

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