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„Es besteht grundsätzlich ein gewisser Nachholbedarf“

Die im Herbst 2020 als „Weltneuheit“ in den Markt eingeführten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) auf Rezept kranken noch an einer geringen Marktdurchdringung. Dr. Gregor-Konstantin Elbel, Partner, Life Science und Healthcare bei Deloitte, beleuchtet die Chancen und Herausforderungen für eine größere Akzeptanz.

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In der von Ihnen mitverfassten Deloitte-Studie „Ein Jahr DiGA – Chancen für gesetzliche Krankenkassen“ haben Sie die innovativen Digitalen Gesundheitsanwendungen unter die Lupe genommen. Was sind Ihre Kernerkenntnisse aus der Studie?

Wir haben für die Studie Vertreterinnen und Vertreter von vier relevanten Gruppen befragt: Patienten, Ärzte, Hersteller und gesetzliche Krankenkassen. Vor allem bei den Herstellern und den Kostenträgern wird der Nutzen in der Versorgung durchaus gesehen und auch die Patienten hatten positive Erfahrungen gemacht. Es gibt allerdings ein Informationsdefizit auf Seiten der Anwender. Auch die Ärztinnen und Ärzte sind nicht immer ausreichend informiert, zum Beispiel darüber, welche DiGA es bereits gibt und wie man diese am besten nutzt. Das ist naheliegend, zumal das Gesetz zur digitalen Versorgung (DVG) die Ärzteschaft nicht unbedingt als notwendigen Schaltpunkt vorsieht.

Es besteht aus unserer Sicht grundsätzlich ein gewisser Nachholbedarf, um die DiGA gezielt in die Versorgung einzusteuern. Unsere Empfehlung für die Kostenträger lautet, die DiGA auch über selektivvertragliche Konstrukte einzubinden, und klarer herauszustellen, für welche Versichertengruppen der Einsatz sinnvoll ist. Dass dieser Nachholbedarf besteht, ist nicht verwunderlich: Die DiGA sollten ja schnell in den Markt kommen, um Erfahrungen zu sammeln. Jetzt muss man das kalibrieren und gezielt weiterentwickeln. Dieses ‚agile‘ Vorgehen war vom Gesetzgeber explizit gewollt.

Die Studie konstatiert, dass es häufig an gezielter Begleitung durch Ärzte und Information für die Zielgruppen fehlt. Woran liegt das und wie lässt sich das ändern?

Im Gesetz ist ja bewusst festgelegt, dass Ärztinnen und Ärzte nicht die einzigen Verordner sind. Es sieht vor, dass DiGA grundsätzlich auch komplett ohne eine vertragsärztliche Einbindung genutzt werden können. Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung im Herbst 2021 war nur bei einem kleinen Teil der DiGA (neun von 22) die vertragsärztliche Einbindung vorgesehen. Bei dem größeren Teil erfolgte die Anwendung ohne eine Einbindung des Arztes oder der Ärztin. Das ist naheliegend, denn es sind durchaus Versorgungskonstellationen denkbar, in denen eine erfolgreiche Nutzung einer DiGA nicht zwingend eine vertragsärztliche Einbindung erfordert. Das ist beispielsweise bei Angststörungen und Burnout oder auch bei bestimmten Formen von Depression der Fall. Bei letzterer kann eine DiGA gerade auch zur Überbrückung der teilweise langen Wartezeit bis zum Beginn einer klassischen Psychotherapie dienen. Auch Prävention kann ohne ärztliche Begleitung erfolgen.

Hinzu kommt, dass es für die DiGA-Hersteller, die mehrheitlich noch Start-ups sind, nicht ganz einfach ist, zehntausende Hausärzte zu informieren. Das ist eine Frage der Logistik, aber auch von Vertriebskapazitäten sowie der ärztlichen Vergütung, die bei digitalen Gesundheitsanwendungen vergleichsweise gering ist. So haben wir im Rahmen unserer Befragung von Ärztevertretern gehört, dass Ärzte die notwendigen Informationen für eine solide Beratung ihrer Patienten zu DiGA mit hohem Aufwand selbst zusammensuchen müssen. Die derzeitige Vergütung für die Verordnung und Behandlungsbegleitung von DiGA in Höhe zwei bzw. sieben Euro sei jedoch kein echter Anreiz, sich mit den zahlreichen DiGA vertieft zu beschäftigen und diese zu verordnen. Hinzu kommt das Wirtschaftlichkeitsgebot aus dem Sozialgesetzbuch: Ärzte sind grundsätzlich angehalten zu prüfen, ob eine Verordnung nicht nur medizinisch, sondern auch wirtschaftlich angemessen ist.

Letztendlich führt wahrscheinlich kein Weg daran vorbei, an zentraler Stelle mehr Transparenz zu schaffen. Wer diese in der Praxis herstellt, ist eine wichtige Frage, also ob das BfArm das derzeitige Verzeichnis weiter ausbaut, ob es das gemeinsam mit den Herstellern und Kostenträgern macht oder auch die Ärzteverbände einbindet. Um die DiGA nachhaltig erfolgreich am Markt zu etablieren, braucht es jedenfalls eine derartige zentrale Übersicht, bei der sich Haus- und Fachärzte als Verordner ebenso wie die Patienten einfach und detailliert informieren können. So etwas jetzt aufzubauen, wäre sinnvoll. Und zwar herstellerunabhängig im Sinne von Transparenz und Objektivität, inklusive Nachweise des jeweiligen Nutzens.

DiGA haben noch eine vergleichsweise schwache Durchdringung am Markt. Kann es sein, dass das auch an zu minimalem Marketing und Service der Anbieter selbst liegt?

Wie wir auch in der Studie beschrieben haben, sind die Ärztinnen und Ärzte es meist gewohnt, über die Außendienste der Hersteller informiert zu werden. Diese Kanäle stehen den DiGA-Herstellern aus verschiedenen Gründen in der Regel nicht zur Verfügung. Zudem ist das Informationsangebot für Ärzte auch ohne DiGA schon so groß, dass es sich kaum im Behandlungsalltag unterbringen lässt.

Ist das nicht auch ein Webfehler in der Konstruktion der DiGA?

Das nicht unbedingt ein Webfehler, sondern eher der Tatsache geschuldet, dass es dem Gesetzgeber zu Beginn darum ging, die DiGA sehr schnell über den Fast Track des BfArm an den Markt zu bringen. Deutschland hat da Neuland beschritten und damit auch in anderen Ländern bereits großes Interesse geweckt. Es ist daher sinnvoll, die ursprünglich avisierte ‚agile‘ Nachsteuerung jetzt anzugehen und die Services und die Informationskanäle entsprechend weiterzuentwickeln.

Wer schaut denn wirklich in die DiGA rein und erklärt die Programme auf ihre Wirksamkeit, sodass Ärzte sie auch kennen, verstehen und ihren Patienten deren Nutzen erklären können – erst recht angesichts der Tatsache, dass da ja künftig immer mehr auf den Markt schwappen?

Im Zulassungsprozess schaut sich das BfArm die DiGA intensiv an. Aber erst nach dem ersten Jahr am Markt, erkennt man den Nutzen der einzelnen DiGA genau. Denn meist kann man den tatsächlichen Nutzen auch nur in der echten Versorgung nachweisen, also muss er auch im realen Versorgungsgeschehen gemessen werden. Perspektivisch braucht es bei vielen hundert DiGA, die künftig noch auf den Markt kommen könnten, die erwähnte zentrale Stelle, an der entsprechende Infos übersichtlich und gut aufbereitet zu finden sind.

Woher weiß der Arzt, welche DiGA für welchen Patienten am besten passt?

Wenn ein Patient beim Arzt sitzt und die Verordnung einer DiGA anspricht, weil er vielleicht schon vorinformiert ist, sollte der Arzt mit einem Tastendruck an seinem Praxis-PC sehen können, was diese DiGA kann und welche Alternativen verfügbar sind. Bei Bedarf sollte auch ein weiterführendes Angebot zur Verfügung stehen, um sich schnell und gezielt tiefer zu informieren.

Wer sollte die Aufklärungsarbeit rund um die DiGA übernehmen und dafür auch Geld in die Hand nehmen?

Wie schon gesagt, geht es für die Hersteller zunächst darum, eine schnelle Marktdurchdringung zu erreichen, denn erst dann können sie nachweisen, dass ihr Produkt gut ist und den gewünschten Nutzen hat. Daher könnte es in letzter Konsequenz sinnvoll sein, die erforderliche Aufklärungsarbeit rund um die DiGA in einer Analogie zum Gemeinsamen Bundesausschuss zu organisieren. Der GBA bestimmt ja als zentrales Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, welche medizinischen Leistungen die rund 73 Millionen Versicherten beanspruchen können und beschließt Maßnahmen zur Qualitätssicherung für Praxen und Krankenhäuser. Die Kostenträger und Leistungserbringer könnten sich also analog mit den Herstellern zusammensetzen und eine Lösung erarbeiten. Und zwar differenziert für das erste Jahr im Fast Track und für die Zeit nach der dauerhaften Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis.

Was ist aus Ihrer Erfahrung notwendig, um eine noch schnellere Durchdringung und Akzeptanz der DiGA am Markt zu erreichen?

Das Thema wird sich auf jeden Fall von selbst beschleunigen. Deshalb ist in einer soliden, kuratierten Weise abzuklären, welche weiteren Einbindungen der DiGA im deutschen Gesundheitswesen denkbar und möglich sind. Zum Beispiel bei der Überbrückung von stationär zu ambulant. Spätestens, wenn der Patient dann künftig seine elektronische Patientenakte hat und auf das digitale Versichertenportal seiner Kasse zugreifen kann, sollten diese auch mit den DiGA verbunden werden. Zudem führt die digitale Entwicklung generell dazu, dass die Dinge sich schnell weiterentwickeln. Hier besteht ein Spannungsfeld, dass wir mit Blick nach vorne weiter auflösen müssen. Konkret: Es müssen Möglichkeiten gefunden werden, Neuerungen schnell zu den Patienten zu bringen und gleichzeitig sicherzustellen, dass Sicherheit und Nutzen gewährleistet werden. Die Antwort ist nicht einfach und es ist auf jeden Fall eine Herausforderung, rasche digitale Innovationszyklen im Gesundheitswesen vernünftig zu integrieren.


Über den Gesprächspartner:

Dr. Gregor-Konstantin Elbel ist Partner in der Industrie Life Sciences & Health Care sowie Leiter des Deloitte Neuroscience Institute (DNI). Als approbierter und ehemals klinisch-tätiger Arzt und Hirnforscher sowie dank mehr als 20 Jahren Erfahrung als Strategieberater verfügt Dr. Elbel über profunde Erfahrung im deutschen und internationalen Gesundheitsmarkt. Ausgewählte Arbeitsgebiete sind u. a. Unternehmens- und Portfoliostrategie, Organisationsentwicklung, aber auch Innovationsmanagement und digitale Transformation.

Wir freuen uns über Ihre Beteiligung.

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