Wie verändert sich unter dem Einfluss der Digitalisierung das Verhältnis von Arzt und Patienten? Verlieren die früher „Halbgötter in Weiß“ betitelten Ärzte Ihren Status als alleinige Träger medizinischen Wissens?
Der aktuelle Technikradar belegt auf jeden Fall, dass sich das Arzt-Patientenverhältnis zunehmend verändert: 60 Prozent der Patienten informieren sich vorab im Internet. Das heißt, es ändert sich das Verhältnis, dass da jemand im Behandlungszimmer sitzt, der gar keine Ahnung hat und dem gegenüber jemand der alles weiß. Da entwickelt sich durchaus seit längerem eine Halb-Götterdämmerung. Die Patienten kommen mehr auf Augenhöhe mit dem Arzt. Aber es geht auch Vertrauen verloren, es wird dem Arzt nicht mehr blind vertraut. Der Patient fühlt sich kompetenter als er sich früher gefühlt hat. Aber das ist auch bisweilen eine trügerische Kompetenz. Es ziehen ja nicht alle Patienten die richtigen Schlüsse, aus dem, was sie sich da zusammengooglen. Die Patienten sind zwar teilweise besser informiert als früher, aber sehr viele fürchten nach der Internetlektüre und der Eigeninterpretation von Symptomen auch, sie haben das Schlimmst-Mögliche. Die Ärzte müssen deshalb immer mehr mit den Patienten diskutieren, die sich vor dem Besuch in der Arztpraxis im Internet informiert haben.
Geht die ärztliche Autonomie verloren?
Hinsichtlich der Einschränkung der ärztlichen Autonomie zeigt sich im Technikradar 2022 kein klares Stimmungsbild: Die Aussage „Durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland wird die Autonomie der Ärztinnen und Ärzte zu stark eingeschränkt“ trifft bei den Befragten auf genauso viel Zustimmung wie Ablehnung. Die Ambivalenz, dass Patientinnen und Patienten durch die bessere Verfügbarkeit von Gesundheitsinformation heute einerseits besser informiert, andererseits mit der richtigen Einordnung dieser Informationen überfordert sind, wird von den befragten Ärztinnen und Ärzten geteilt. Knapp die Hälfte stimmt der Aussage zu, dass die bessere digitale Verfügbarkeit von Gesundheitsinformationen zu besser informierten Patientinnen und Patienten führe. Gleichzeitig teilen knapp 60 Prozent die Einschätzung, dass die meisten Patientinnen und Patienten mit der Nutzung digitaler Angebote bzw. der Interpretation digitaler Informationen überfordert sind.
Sind Ärzte überhaupt mehrheitlich in der Lage, ihre Patienten über Arbeitsweise und Nutzen von Algorithmen und KI im Gesundheitswesen hintergründig aufzuklären?
Künstliche Intelligenz ist erst mal ein neuronales Netzwerk, das trainiert wird. Aber wie die wirklich für Patienten arbeitet, dazu haben die Ärzte weder das Wissen noch die Zeit, das zu erklären, wenn sie es denn wissen. Die meisten Ärzte tun sich schon schwer, statistische Auswertungen zu machen.
Wer sonst könnte oder sollte diese Aufklärung vornehmen?
In Baden-Württemberg zum Beispiel werden beim Landesmedienzentrum Gesundheitslotsen ausgebildet, die älteren und wenig internetaffinen Menschen helfen sollen mit den im Web angebotenen Gesundheitsinformationen besser umzugehen. Aber das ist auch eher eine politische als eine wissenschaftliche Frage. Ich sehe da die Verbände in der Pflicht, die auch dazu beitragen müssen, dass die Ausbildung in diese Richtung gelenkt wird. Ich glaube, das muss auch nicht unbedingt der Arzt machen, weil ihm dazu die Zeit nicht reicht. Da müssen auch andere Lösungen her.
Sind die Ärzte mit der Digitalisierung und den damit verbundenen Themen eher überfordert?
Es ist ja bekannt, dass viele Ärzte Probleme mit der elektronischen Patientenakte haben und zahlen dafür, wenn sie sich nicht an die Infrastruktur anschließen lassen. Nach unseren Informationen ist nur jeder zehnte Arzt mit der Umsetzung der ePA zufrieden. Dazu kommt, dass sich der Dokumentationsaufwand durch die Digitalisierung für die Ärzte vergrößert. Ein wichtiges Versprechen der Digitalisierung, nämlich Zeitgewinn, tritt eigentlich nicht ein. Mittlerweile ist der Arztbesuch zunehmend mehr von der Vorsorge als der Heilung geprägt. Um das in eine geordnete Bahn zu lenken, sollen die DiGAs dazu beitragen. Aber da geht es auch wieder um Datensammlung, es macht den Eindruck, dass es zahlreichen digitalen Apps darum geht, möglichst viele Daten einzusammeln, anstatt zu helfen.
Bemerkenswert ist aber auch: Laut einer nicht-repräsentativen Befragung von 200 Ärzten im Rahmen des TechnikRadar 2022 haben nur 13,1 Prozent der befragten Ärzteschaft Kenntnis darüber, wer auf die digitalen Patientendaten Zugriff hat und welche Daten abgerufen werden. Eine Mehrheit von rund 60 Prozent der befragten Ärzteschaft ist der Meinung, dass die Patientinnen und Patienten sowohl mit der Nutzung digitaler Angebote als auch mit deren Interpretation überfordert sind. 55 Prozent der Medizinerinnen und Mediziner meinen, dass der Datenschutz in Deutschland den medizinischen Fortschritt behindere. Aber nur vier Prozent haben einen Überblick darüber, welche Daten ihrer Patientinnen und Patienten von den Krankenkassen gespeichert werden. Und nur jede bzw. jeder siebte Befragte weiß, wer auf die Daten zugreifen darf.
Über den Gesprächspartner:
Dr. rer. pol. Wolfgang Hauser hat Soziologie an der Universität Bamberg und an der Université de la Réunion studiert und war währenddessen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung tätig. Seit 2008 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart (ZIRIUS).