Etwa eine Generation zurück schien die Welt noch in Ordnung. Der „Herr Doktor“ oder die „Frau Doktor“ waren die umfassend Wissenden und der Patient, der Leidende, der ihnen ausgelieferter „Untertan“. Die Entscheidungen der Omnipotenten musste er diskussionslos annehmen. Von Vorab-Informationen über Krankheitsbilder und -Symptome, von Zweitmeinungen oder kritischem Hinterfragen des eingeschlagenen medizinischen Procedere war nur in Einzelfällen die Rede.
Die fortschreitende Digitalisierung auch im Gesundheitswesen verändert fast alles. Vor allem auch das eingangs geschilderte Verhältnisses in der Beziehung zwischen Patient und Arzt. Sensibilisierte und Patienten begannen bereits vor Jahren, in der Sprechstunde Fragen zu stellen über Dinge wie Differenzialdiagnose und Therapiealternativen. Inzwischen ist es fast Patientensport geworden, seinem Arzt nicht mehr blind zu vertrauen. Diagnosen und Therapien werden vom mündiger werdenden Patienten häufiger denn je hinterfragt. Der „TechnikRadar 2022“ von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, der Körber-Stiftung und dem Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart (ZIRIUS) belegt eindrucksvoll, dass und wie sich das Arzt-Patientenverhältnis zunehmend verändert: 60 Prozent der Patienten informieren sich vorab im Internet. 63 Prozent der Deutschen glauben demnach inzwischen auch, dass sie Informationen im Internet kritisch beurteilen können. 60 Prozent der befragten Medizinerinnen und Mediziner meinen hingegen, dass die Patientinnen und Patienten von den digitalen Angeboten überfordert sind. Da prallen zwei Welten aufeinander. Ärzte monieren zudem, dass mit der Verbreitung des Internet auch eine Welle von Pseudowissen in die Sprechzimmer schwappt.
Die Patienten kommen mehr auf Augenhöhe mit dem Arzt
„Da entwickelt sich durchaus seit längerem eine Halb-Götterdämmerung. Die Patienten kommen mehr auf Augenhöhe mit dem Arzt“, sagt Dr. Wolfgang Hauser, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart (ZIRIUS) und federführender Co-Autor des TechnikRadar 2022. „Der Patient fühlt sich kompetenter als er sich früher gefühlt hat. Aber das ist auch bisweilen eine trügerische Kompetenz. Es ziehen ja nicht alle Patienten die richtigen Schlüsse, aus dem, was sie sich da zusammengooglen. Die Patienten sind zwar teilweise besser informiert als früher, aber sehr viele fürchten nach der Internetlektüre und der Eigeninterpretation von Symptomen auch, sie haben das Schlimmst-Mögliche.“
Die Bundesärztekammer hat diese Entwicklung in einem aktuellen Thesenpapier zur „Weiterentwicklung der ärztlichen Patientenversorgung durch Digitalisierung“ ebenfalls näher beleuchtet. Dort heißt es unter anderem: „Ein wichtiger Einflussfaktor für eine Veränderung des Patient-Arzt-Verhältnisses ist der Umstand, dass behandlungsrelevante Daten zunehmend außerhalb und im Vorfeld des Patient-Arzt-Kontaktes generiert werden. Monitoring, Diagnostik, externe Erhebung von Daten des Patienten, Laborminiaturisierung mit entsprechenden Auswertungstools oder Innovationen bei der Entwicklung von Sensorik führen dazu, dass die Quantität, der vom Arzt zu bewertenden Informationen, deutlich ansteigen wird. Der Patient wird zum „selbstständigen Produzenten“ seiner Daten, unabhängig von einer bisher üblichen ärztlichen Veranlassung bzw. Indikationsstellung.“
Treten unbekannte Krankheitssymptome auf, konsultieren drei von zehn Deutschen zunächst einmal „Dr. Google“. Weitere zwei von zehn (18,3 Prozent) suchen in Foren oder medizinischen Portalen wie NetDoktor, Dr. Gumpert oder Apotheken Umschau nach entsprechenden Gesundheitsinformationen. Bei knapp der Hälfte der Befragten liegen YouTube und Co. ganz weit vorn, wenn es um die Suche nach Informationen zum Thema Gesundheit geht. Allein 22,7 Prozent der Befragten sehen sich Videoanleitungen, sogenannte Tutorials, an. Auch die Sozialen Netzwerke werden von knapp 30 Prozent im gesundheitlichen Kontext genutzt. Interaktion und die Möglichkeit zur Rückmeldung sind dabei Schlüsselfunktionen. Und der Trend zum Internet als primäre Informationsquelle in Gesundheitsfragen oder der Suche nach medizinischem Fachpersonal schreitet weiter voran. All das zeigen Daten des „Health Information National Trend Survey (HINTS) Germany“, einer 2021 veröffentlichten Studie der Stiftung Gesundheitswissen und des Hanover Centre for Health Communication.
Gesundheitsdaten als Treiber der Entwicklung
Laut einer Erhebung der Siemens Betriebskrankenkasse SBK wünschen sich 80 Prozent der Patienten allerdings, dass sie von einem Arzt oder anderen Experten bei der Auswertung der Informationen aus den digitalen Angeboten unterstützt werden. Das entspricht auch der neuen Rolle, den die Expertinnen und Experten in Krankenhäusern, Pharmaunternehmen und Patientenverbänden, die im Vorjahr für den TechnikRadar 2021 befragt wurden, den Ärzten in Zukunft zuordnen. Sie gehen davon aus, dass sich im Zuge der digitalen Transformation das Arzt-Patienten-Verhältnis grundsätzlich wandelt: „Die Ärztinnen und Ärzte entwickeln sich zu ‚Informationsbrokern‘, die nicht nur selbst diagnostizieren, sondern auch weitere Informationen und Daten für die Patientinnen und Patienten einordnen, bewerten und richtigstellen müssen.“ Die für die Studie befragten Stakeholder befürchten durch diese neue Situation aber auch Ohnmachtserfahrungen und eine Entmenschlichung des Gesundheitssystems.
Treiber dieses Wandels sind Gesundheitsdaten, die mit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePADigitale Akte unter Datenhoheit des Patienten … mehr erfahren) und der digitalen Vernetzung des Gesundheitssystems schon bald in höherer Quantität und Qualität verfügbar sein werden. Dazu kommen die Daten aus Health-Apps, Fitnesstrackern und weiteren digitalen Möglichkeiten, die immer beliebter unter den Patienten werden. Das gilt sowohl für allgemeine Apps und andere digitale Angebote wie die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAGesundheits-App, die ärztlich verschrieben werden kann und deren Kosten von der Krankenkasse übern… … mehr erfahren) zur Förderung der Gesundheit, sowie die Erkennung, Überwachung, Behandlung von Krankheiten und Behinderung. Patientinnen und Patienten können dort erfasste Daten selbst verwalten und auch bestimmen, wofür sie genutzt werden.
Auch werden Patienten ihre eigenen Daten, die in ihrer ePatientenakte zusammengeführt werden können, verstärkt selbst oder durch Dritte (z.B. Zweitmeinung, Fernbehandlung) und mit digitaler Unterstützung bewerten und auswerten. Weitere, insbesondere virtuelle Anbieter bieten bisher von Ärzten erbrachte Leistungen an. „Das bislang dominierende Kernszenario der Versorgung – der physische, häufig seit Jahren bestehende Patient-Arzt-Kontakt – erfährt durch diese Angebote Konkurrenz. Das Monopol der Ärzte, über medizinisches Wissen zu verfügen und dieses im direkten Patient-Arzt-Kontakt anzuwenden, wird mehr und mehr in Frage gestellt“, postuliert die Bundesärztekammer. Der Anteil vorinformierter Patienten werde noch deutlich ansteigen. Und die Einordnung der Vorinformationen werde sich in einem erhöhten Beratungsaufwand im Patient-Arzt-Verhältnis auswirken.
Datenanalyse als gewaltige Anforderung für die Ärzteschaft
Ärztinnen und Ärzte sehen sich dagegen der gewaltigen Anforderung gegenüber, die Datenflut mithilfe künstlicher Intelligenz zu analysieren und abzugleichen – um am Ende bessere Diagnosen zu stellen und passgenauere Therapiemöglichkeiten abzuleiten. Doch in der Praxis setzen viele Ärzte digitale Technologien erst begrenzt ein. Und auch die Patienten wissen mit Segnungen der Telematik wie der ePA noch nicht viel anzufangen. Zumindest legt das Ergebnis des in diesem Mai veröffentlichten TechnikRadar 2022 diesen Schluss nahe. „Nach unseren Informationen ist nur jeder zehnte Arzt mit der Umsetzung der ePA zufrieden“, sagt Dr. Wolfgang Hauser. Zwar haben demnach 46,8 Prozent der Deutschen vor, die elektronische Patientenakte zu verwenden. Aber nur 5,1 Prozent tun das bereits. Rund ein Viertel der Patienten kennen das Angebot noch gar nicht.
„Die digitale Transformation des Gesundheitswesens ist kein Selbstläufer. Sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Patientinnen und Patienten benötigen digitale Gesundheitskompetenz – also Digital Health Literacy –, um das neue datenbasierte Wissen bewerten und nutzen zu können. Je souveräner der Umgang mit digitalen Technologien gelingt, desto größer sind die Aussichten auf einen allgemeinen Zugewinn und mehr Selbstbestimmung“, kommentiert Professorin Cordula Kropp, wissenschaftliche Projektleiterin und Soziologin vom Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart (ZIRIUS). So müssen Patientinnen und Patienten sowie Leistungserbringende beispielsweise darauf hingewiesen werden, dass Algorithmen mit Daten „trainiert“ werden. Sind diese Daten verzerrt, kann es zu Fehlbefunden kommen. Medizinische Studien werden beispielsweise zumeist an jungen, weißen, männlichen Probanden durchgeführt, vernachlässigen also Geschlecht, Alter und Ethnie. Wenn eine künstliche Intelligenz auf Basis derartig verzerrter Daten Urteile fällt, müssen diese entsprechend hinterfragt und eingeordnet werden, warnt sie.
Digitale Kompetenz der Ärzte ungeklärt
Bedenklich in diesem Zusammenhang: Laut einer nicht-repräsentativen Befragung von 200 Ärzten im Rahmen des TechnikRadar 2022 haben nur 13,1 Prozent der befragten Ärzteschaft Kenntnis darüber, wer auf die digitalen Patientendaten Zugriff hat und welche Daten abgerufen werden. Und nur vier Prozent haben einen Überblick darüber, welche Daten ihrer Patientinnen und Patienten von den Krankenkassen gespeichert werden. Nur jede bzw. jeder siebte Befragte weiß, wer auf die Daten zugreifen darf. Und die Bundesärztekammer sieht in ihren Thesen zusätzliches Ungemach auf die Ärzte zukommen: „Perspektivisch wird für einen behandelnden Arzt gegebenenfalls der Verzicht auf Unterstützung durch KI einen Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht bedeuten“, heißt es dort.
Und der Druck wächst. „Patienten werden zukünftig vermehrt Digitalkompetenz von ihren Ärzten einfordern“, ist die Bundesärztekammer sicher. „Ärzte müssen sich dieser Entwicklung stellen“. Aus deren Perspektive besteht die zentrale Herausforderung, die Vielzahl und Leistungsfähigkeit digitaler Anwendungen einzuordnen, um auch diesbezüglich seinen Patienten beratend zur Seite zu stehen. „Ärzte werden in ihrem Selbstverständnis die veränderte Beziehung zum Patienten durch Digitalisierung adaptieren müssen. Zum einen bedeutet dies eine Rückbesinnung und Stärkung grundsätzlicher ärztlicher Tugenden wie Zuwendung, Beratung und Begleitung.“ Zum anderen ändert das die Rolle der Ärzte radikal. Die einstigen „Halbgötter in Weiß“ müssen künftig die Position eines „Digitallotsen in Gesundheitsfragen für den Patienten übernehmen“, so die Bundesärztekammer, etwa als Ratgeber hinsichtlich der Auswahl und Inanspruchnahme digitaler Anwendungen.
Inwieweit die Ärzte, insbesondere die Haus- und Fachärzte, diese neue Rolle überhaupt ausführen können und überhaupt mehrheitlich in der Lage sind, ihre Patienten über Arbeitsweise und Nutzen von Algorithmen und KI im Gesundheitswesen hintergründig aufzuklären, darüber schweigt sich die Bundesärztekammer allerdings aus. Konkrete Fragen unserer Redaktion, wer die Ärzteschaft auf dem Weg in diese neue Rolle begleitet, anleitet und weiterbildet, wurden jedenfalls innerhalb von drei Wochen nicht beantwortet. Bleibt abzuwarten, ob „Herr Doktor“ und „Frau Doktor“ ihre angestammte Rolle als Vertrauensperson des Patienten in den kommenden Jahren aufrechterhalten können, oder ob sie weiter an Kompetenz gegenüber „Dr. Google“ verlieren.