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Selfdriving Clinic, © Christoph Holz

Wenn die Klinik zum Menschen kommt

In früheren Zeiten besuchte der Chirurg seinen Patienten noch zu Hause. Mit der Vision von der selbstfahrenden Klinik könnte das auch in Zukunft wieder so sein. Denn es ist Zeit, den teuren und kriselnden Kliniken neue und bessere digitale Konzepte entgegenzusetzen, finden Visionäre.

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Sieht so die Zukunft der medizinischen Versorgung aus? Passive Überwachungstools wie Smart Watches, Wearables und smarte Einrichtungsgegenstände wie die Toilette oder der Badezimmerschrank sammeln und verarbeiten in einem Verbund verschiedener Sensoren kontinuierlich wesentliche Gesundheitsdaten des Patienten. Der dadurch entstehende Datensatz wird mittels künstlicher Intelligenz (KI) überwacht und analysiert. Die KI lernt dabei, ungewöhnliche Ergebnisse zu erkennen, Alarm zu schlagen und Hilfe zu organisieren. Diese Hilfe kommt dann in Gestalt einer modernen, selbstfahrenden Klinik zum Patienten nach Hause oder zu seinem Arbeitsplatz gesaust. Das Mini-Krankenhaus stellt vor Ort eine weitergehende Diagnostik mittels KI zur Verfügung. Und sie ist in der Lage, oft genutzte und eher harmlose Medikamente direkt bereit zu stellen. Erfordert die Diagnose eine sofortige medizinische Intervention, kann die KI eine Verbindung zu einem Facharzt herstellen, den Patienten im Notfall in eine Notaufnahme transportieren oder in einer Ausbaustufe auch selbst einen operativen Eingriff mittels Robotik vornehmen.

Das visionäre Konzept AIM (Artificial Intelligence Medicine) des Unternehmens Artefact Group aus Seattle zum Beispiel ist bereits für die Selbstbeurteilung mit Brückendiagnostik wie Thermografie, Bildgebung und Atemanalyse optimiert. Dieser Entwurf einer mobilen Klinik verfügt über eine eingebaute, druckempfindliche Waage zur Messung von Gewicht, BMI, Gleichgewicht und Körperhaltung, einen Sitz, der eine akustische Analyse von Atmung und Herzrhythmus ermöglicht, sowie eine kontrollierte Beleuchtung, die die Beurteilung durch Bilderkennung erleichtert. Surround-Displays liefern dem Patienten KI-gesteuerte Anweisungen in Echtzeit. Große Teile des AIM-Konzeptes könnten vom Ablauf her wohl ohne weiteres in existierende Gesundheitssysteme integriert werden. Auch in Deutschland warten Patienten inzwischen teilweise monatelang auf einen Arzttermin. Derartige automatisierte Systeme wären in der Lage, niedergelassene Ärzte und Kliniken zu entlasten, ihre fachliche Kompetenz zu bündeln und entsprechend zu verteilen.

Bessere flächendeckende Grundversorgung

Diese Vision von der „Selbstfahrenden Klinik“ könnte damit ein möglicher Weg zu einer besseren flächendeckenden Gesundheitsversorgung sein. Das sieht auch Professor Dr. Bjoern Eskofier so, Leiter des Lehrstuhls für Maschinelles Lernen und Datenanalytik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg: „Man kann sich schon vorstellen, so etwas zu bauen. Die autonom arbeitende Klinik ist ja ohnehin schon vorstellbar. Wenn man das auf die Größe eines Wohncontainers verkleinern kann, dann ist das eine Art Verdichtung der Klinik. So ein Konzept ist durchaus denkbar und auch in Zukunft vielleicht sogar umsetzbar und sinnvoll.“ (Zum Interview)

Denn ob und wie lange die deutschen Kliniken noch in der Lage sein werden, die flächendeckende Versorgung für medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten, ist angesichts deren aktueller Lage ungewiss. Denn es geht ihnen aktuell schlechter als kaum jemals zuvor. Der Handlungsdruck nimmt ständig zu. Denn es mangelt nicht nur an geeignetem Personal, um die erforderlichen Leistungen weiterhin in guter Qualität erbringen zu können. Gleichzeitig steigen inflationsbedingt die Sach- und Energiekosten.

Die wirtschaftliche Situation der deutschen Krankenhäuser hat sich in diesem Jahr weiter zugespitzt. Knapp 70 Prozent der Kliniken erwarten ein Defizit (2021: 62 Prozent), bei den Häusern in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft sind es sogar 90 Prozent (2021: 73 Prozent). In der „Krankenhausstudie 2022“ von Roland Berger, die das erhoben hat, heißt es unter anderem, dass 96 Prozent der Klinikvorsitzenden mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den nächsten fünf Jahren rechnen. „Dadurch, dass die Rücklagen vieler Krankenhäuser schon vor Corona sehr gering waren, stehen jetzt viele mit dem Rücken zur Wand“, sagt Peter Magunia, Partner bei Roland Berger.

Über alles nachdenken, was automatisiert werden kann

Da macht es durchaus Sinn, sich mit alternativen Konzepten zu beschäftigen, die mit den immer ausgereifteren digitalen Technologien auch zunehmend realistischer werden. Erste rudimentäre Elemente auf dem Weg dorthin sind jedenfalls schon am Start. Zum Beispiel in Sachen Mobilität: Mit ihrer Medibus-Flotte mobiler Hausarztpraxen stärkt die DB Regio bereits seit einigen Jahren die medizinische Grundversorgung überall dort, wo sie dringend benötigt wird. So touren die Arztpraxen auf Rädern in Zusammenarbeit mit dem IT-Anbieter Cisco Systems durch deutsche Großstädte wie Hamburg, Köln und München und versorgen ukrainische Geflüchtete. Der zur Arztpraxis umgebaute Medibus verfügt über einen EKG-Monitor-Defibrillator, eine Lungenfunktion, ein Ultraschallgerät und moderne Praxis-EDV. Ein Schnelllabor dient der Diagnostik von Herzinfarkt, Lungenembolie und tiefer Beinvenenthrombose sowie zur Überprüfung von gerinnungshemmenden Therapien. Es können sogar kleinchirurgische Eingriffe wie die Versorgung von Wunden, das Spalten von Abszessen, das Entfernen von Hautveränderungen sowie Impfungen vorgenommen werden. Allerdings ist der Medibus derzeit neben dem Fahrer auch noch mit einem leibhaftigen Arzt besetzt.

In einer selbstfahrenden Klinik würde aber noch weit mehr auf digitale Technologien gesetzt als derzeit im Medibus. „Zusätzlich zum autonomen Fahren sind viele automatisierte Aspekte wie die Auswertung radiologischer Daten heute schon möglich“, sagt Professor Bjoern Eskofier. „Da denkt man über alles nach, was im Grundsinn der KI automatisiert werden kann: Zum Beispiel Robotiksysteme, die in der OP eingesetzt werden, etwa beim Knie.“ Man könne sich das in etwa vorstellen wie eine modulare Serie von Wohncontainern, die unter anderen mit Computertomographen und OP-Robotern ausgestattet sind. Auch eine Spezialisierung ist möglich: Für jede Operationsform oder Typ gibt es spezialisiertes Gerät und das ist im Land unterwegs. In einer ersten Entwicklungsstufe könnten zunächst nicht lebensbedrohliche Situationen versorgt werden. Grundsätzlich sei es denkbar, „dass alles, was der Arzt heute operiert, künftig auch der Roboter machen kann.“

Christoph Holz, Foto: Robert Staudinger

Christoph Holz, Foto: Robert Staudinger

Weltweite Forschung an neuen OP-Robotern

„Die Digitalisierung soll dem Arzt und dem Pfleger die Freiheit zurückgeben, das zu tun, wofür sie den Beruf ergriffen haben, nämlich Menschen zu heilen“, sagt dazu Christoph Holz, studierter Informatiker und Raumfahrttechniker sowie Transformationserklärer. „Die wesentliche Frage lautet: Brauchen wir die sehr teure, riesige Infrastruktur der Krankenhäuser zukünftig noch? Machen wir weiter wie bisher, oder ist die Zeit gekommen für einen Systemwechsel?“ Der Start-Up-Gründer, Business Angel, Silicon Valley-Entrepreneur, Investor und Cyborg sieht in den großen Krankenhäusern nicht nur Gesundheitseinrichtungen, sondern Machtapparate, die oft mehr der Effizienz als der Heilung untergeordnet seien. Und stellt die Frage: „Was wäre, wenn man das zurückdreht? In früheren Zeiten kam der Chirurg auch zu seinem Patienten nach Hause und hat ihn dort behandelt. Und der mobile OP-Bus kann gegebenenfalls zum Hausarzt fahren, der dann die OP begleitet.“

Die Digitalisierung soll dem Arzt und dem Pfleger die Freiheit zurückgeben, das zu tun, wofür sie den Beruf ergriffen haben, nämlich Menschen zu heilen“

Die Technologie, mit der die mobilen Kliniken ausgestattet werden können, sieht Christoph Holz jedenfalls heranwachsen: „Die KI ist bereits besser in der Diagnose von Hauterkrankungen als der Mensch. In den USA werden rund 70 Prozent aller Prostata-Operationen vom OP-Roboter Da Vinci als verlängerter Arm des Operateurs vorgenommen. Und bei Herzoperationen verödet ein Roboter abgestorbenes Gewebe im Herzen durch Vereisung, während das Herz schlägt, synchron zur Herzbewegung. 150 Unternehmen weltweit forschen an neuen OP-Robotern, die irgendwann auch mehr können, als die Bewegungen des operierenden Menschen auszugleichen.“

Zudem könne bei diesem System ein wesentlicher Kostenfaktor der stationären Krankenhäuser entfallen, nämlich der Aufenthalt nach der Operation, die Überwachung. „Zehn Prozent der Fläche in den Krankenhäusern sind OP-Räume. Der Rest dient der Nachbetreuung. Wer liegt denn gerne im Krankenhaus? Und warum kann die Überwachung nicht die Apple-Watch der übernächsten Generation übernehmen? Es gibt auch autonome Spritzensysteme mit Morphium für Palliativ-Patienten, die leider das Lebensende daheim verbringen. So ein System erlaubt Schwerstkranken, das Leben in Würde zu beenden. Warum soll das nicht auch nach einer Blinddarm-OP funktionieren?“

Mehr Zeit für Beratung und Vertrauensaufbau

Der Ärztin und dem Arzt bliebe in einem solchen System auch mehr Zeit für das Beratungsgespräch und den Vertrauensaufbau, sagt Christoph Holz, der mit einer Intensivmedizinerin verheiratet ist. „Medizin ist eine soziale Praxis. Der Arzt möchte Menschen heilen und nicht Checklisten ausfüllen. Der Arzt ist Berater und Mentor und derjenige der Dinge erklärt. Die Hälfte des Heilerfolges ist das Vertrauen in den Arzt. Ob die OP-Schnitte aber am Ende vom Arzt gemacht werden oder von dem OP-Roboter ist für den Heilungserfolg weniger erheblich.“

Allzu weit weg ist die Vision der selbstfahrenden Klinik womöglich gar nicht. So hat die Arbeitsgruppe „Gesundheit, Medizintechnik, Pflege“ der Plattform Lernende Systeme gemeinsam mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI) und der Charité Berlin eine qualitative Expertenbefragung von Patientenvertretern in Deutschland durchgeführt. Ergebnis: Die Nutzung von patientenindividuellen medizinischen Daten und KI-Assistenzsystemen kann künftig bei der Prävention, frühzeitigen Diagnosen sowie bei individualisierten Therapien zu besseren Behandlungsergebnissen führen, die Entdeckung neuer medizinischer Zusammenhänge und innovativer Präventionsansätze ermöglichen und somit unsere Gesundheitsfürsorge verbessern.

„Die Digitale Revolution ist ja noch nicht zu Ende“, sagt auch Transformationserklärer Christoph Holz. „Die Geräte werden besser, egal, ob in einem, fünf oder zehn Jahren – irgendwann werden diese Roboter den besten Chirurgen der Welt übertreffen, da bin ich mir sicher.“ Und auch Professor Björn Eskofier denkt in diese Richtung: „Wenn es mal so weit ist, dass die Überlebenschance bei einer Roboter-OP zum Beispiel mehr als 30 Prozent höher ist, werden viele bislang vielleicht noch skeptische Menschen sich so einen Eingriff überlegen.“

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