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Grafik mit dem Thema: Digitaler Arzt, Oberkörper eines Arztes in blau leuchtenden Vektoren Linien

Neue Gesundheitsberufe für die digitale Zukunft

Als Antwort auf die digitale Transformation des Gesundheitssystems plädiert eine Reformkommission der Stiftung Münch für drei neue Gesundheitsberufe: Fachkraft für digitale Gesundheit, Prozessmanager für digitale Gesundheit und Systemarchitekt für digitale Gesundheit. Vertreter des „Bündnis Junge Ärzte“ (BJÄ) erweitern diesen Vorschlag um ein weiteres Berufsbild - den Arzt für digitale Medizin.

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Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft mit steigenden Behandlungszahlen und einer tiefgreifenden digitalen Transformation des Gesundheitssystems empfiehlt eine Reformkommission der Stiftung Münch eine grundsätzliche Neuausrichtung der Bildung in den Gesundheitsberufen. Zweck der Stiftung ist die Förderung von Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Gesundheitswirtschaft, insbesondere auf Grundlage des vom Stifter Eugen Münch entwickelten Konzepts der Netzwerkmedizin und die Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und der öffentlichen Gesundheitspflege.

„Wir müssen die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Gesundheitsberufen komplett neu denken“, fordert die „Reformkommission Gesundheitsberufe der Zukunft“ und beschreibt gleich drei neue Berufsbilder ganz konkret:

  • die Fachkraft für digitale Gesundheit
  • den Prozessmanager für digitale Gesundheit
  • den Systemarchitekt für digitale Gesundheit

 

Die Potenziale einzelner Gesundheitsberufe werden nur unzureichend genutzt

„Viele Ausbildungen erfolgen immer noch weitgehend ohne Berücksichtigung der demographischen und medizinisch-technologischen Veränderungen wie Ambulantisierung, Personalisierung, Automatisierung oder Künstliche Intelligenz“, heißt es in dem Projektbericht „Neue Gesundheitsberufe für das digitale Zeitalter“. Teilweise würden Mediziner und andere Gesundheitsberufe noch wie zu Virchows Zeiten ausgebildet. Ärzte und Angehörige anderer medizinischer Fachberufe, so der Befund, seien nach dem Abschluss ihrer Ausbildung oft nur unzureichend auf ihr Berufsleben in einem sich radikal wandelnden Gesundheitssystem vorbereitet. Außerdem würden in einem vorwiegend arztzentrierten Versorgungs- und Vergütungssystem die Potenziale einzelner Gesundheitsberufe nur unzureichend genutzt, so die Kritik.

„Der Arzt wird es nicht allein schaffen, die Möglichkeiten der Digitalisierung auszuschöpfen“, konstatiert Univ.-Prof. Dr. med. Sebastian Kuhn, Leiter der Reformkommission der Stiftung Münch (siehe Interview) und prophezeit: „Es werden sich in den nächsten Jahren weitere neue, patientennahe Berufe entwickeln, die auf unterschiedlichen Ebenen im System agieren und prozessübergreifend sicherstellen, dass der digitale Wandel in den Organisationen vernünftig gestaltet wird.“

Die Digitalisierung des Gesundheitssystems ist ein langfristiger und schwieriger Prozess

Dieser Wandel werde sehr langfristig sein, da es eine große Fragmentierung in den Behandlungsabläufen gibt. „Digitale Abläufe lassen sich im Gesundheitsbereich nicht so gut standardisieren wie in der Industrie“, so Dr. Kuhn. „Die Telematik als Basis hilft zwar dabei – deren Interoperabilität ist da ein wichtiger Aspekt, quasi die Grundvoraussetzung, um weitere digitale Systeme daran anzudocken oder darauf aufzubauen.“ Jüngste Beispiele für den tiefgreifenden Umbau des alten Gesundheitssystems in ein neues digitales Gesundheitssystem sind das Digitale-Versorgung-Gesetz, das im November 2019 im Bundestag verabschiedet wurde sowie das am 18.09.2020 vom Bundestag beschlossene Krankenhauszukunftsgesetz.

Ein Überblick über die vorgeschlagenen neuen Gesundheitsberufe

Fachkraft für digitale Gesundheit (Digital Health Carer)

Die Fachkraft für digitale Gesundheit betreut unmittelbar jeweils einzelne Patienten und sucht nach individuellen Wegen zur bestmöglichen Versorgung in ihrer konkreten Situation. Sie leistet klassische analoge Hilfe und Routineversorgung und greift bei Bedarf auf digitale Technologien zurück, an die sie den Patienten – und wo nötig und möglich auch seine Angehörigen – heranführt. Ein relevanter Teil der Arbeit dieser Fachkraft wird die Pflege der Gesundheitsdaten und der elektronischen Patientenakte sein.

„Mit dieser Stellenbeschreibung erfüllt die Fachkraft für digitale Gesundheit die Funktion eines „Kümmerers“ in der Primärversorgung, der patientennah agiert und gleichzeitig die koordinative Lücke zwischen den individuellen Bedarfen des Patienten und den neuen Möglichkeiten der digitalen Gesundheitswelt schließt,“ so Dr. Sebastian Kuhn. Die Fachkraft vernetzt Fall für Fall sektorenübergreifend verschiedene Gesundheitsberufe und andere Dienstleister und Versorger vom Logopäden bis zum Sozialarbeiter, von der Reha-Einrichtung bis zum ambulanten Pflegedienst. Mit dem Patienten und für den Patienten interagiert die Fachkraft mit den verschiedenen Akteuren, stellt sicher, dass im Behandlungsablauf möglichst keine Brüche entstehen und pflegt die relevanten Gesundheitsdaten, falls der Patient hierzu nicht in der Lage ist.

Als zentrale Bezugsperson für Patienten soll der „Kümmerer“ eine Reihe von Funktionen erfüllen, die heute weitgehend Haus- und Fachärzten zukommt, ohne dass diese über die dafür notwendigen Ressourcen verfügen. Insofern kann die Fachkraft für digitale Gesundheit den Arzt entlasten und im Idealfall zu einer Kostenreduktion beitragen, indem sie die wünschenswerte ambulante und häusliche Versorgung unterstützt. Ihre patientennahe Funktion kann die Fachkraft sowohl im stationären wie im ambulanten Sektor erfüllen, also in Kliniken, Arztpraxen, medizinischen Versorgungs- und Gesundheitszentren, in Pflegeeinrichtungen oder bei ambulanten Diensten. Angesichts schwieriger Verhältnisse vor allem im ländlichen Raum, wo es vielfach an Haus- und Fachärzten mangelt, dürften die privaten Wohnorte der Patienten ein häufiger Einsatzort dieses neuen Berufs sein.

Prozessmanager für digitale Gesundheit (Digital Health Process Manager)

Der Prozessmanager für digitale Gesundheit verantwortet die Implementierung und Aufrechterhaltung innovativer Versorgungsabläufe. Im Unterschied zu einem Informatiker oder einem Medizin-Informatiker handelt er immer im Kontext einer konkreten Behandlungsanforderung für ein Patientenkollektiv. Medizinische und pflegerische Abläufe durch die Einführung digitaler Gesundheitstechnologien weiterzuentwickeln, ist ein komplexer Veränderungsprozess. Dieser erfordert innovative Prozessabläufe und die Moderation eines Wandels der Arbeitsweisen von Menschen.

„Die Einführung neuer Technologien zur Unterstützung der Patientenversorgung muss dabei als Change-Management-Prozess verstanden werden, wobei die Technologien selbst nur die Werkzeuge sind, um eine Veränderung zu ermöglichen“, sagt Dr. Sebastian Kuhn. Bei der Integration neuer Technologien muss die Patientensicherheit zentral adressiert werden. Gesundheitsfachleute müssen Regulierungs- und Konformitätsanforderungen respektieren, Informationssicherheit und Datenschutz überprüfen, rechtliche Handlungsrichtlinien gewährleisten und evidenzbasierte Behandlungskonzepte etablieren. „Es muss daher darauf geachtet werden, dass digitale Versorgungskonzepte etabliert werden, die in hippokratischer Tradition dem moralischen Grundsatz „Primum non nocere“ folgen“, heißt es in der Stellebeschreibung des Projektberichts.

Der Prozessmanager für digitale Gesundheit kann sowohl im stationären wie im ambulanten Sektor arbeiten aber auch intersektoral an den analogen und digitalen Schnittstellen verschiedener Einrichtungen; auch Krankenkassen, forschende Pharmafirmen oder Datenbanken können Einsatzfelder für den digitalen Prozessmanager sein. Er interagiert in erster Linie mit den Vertretern verschiedener Berufsgruppen und Anwendern der digitalen Technologien, also mit Ärzten, Pflegern, IT-Verantwortlichen in den medizinischen Einrichtungen und mit externen Dienstleistern sowie Herstellern. Als erklärendes und moderierendes Glied zwischen ihnen benötigt der Prozessmanager für digitale Gesundheit hohe kommunikative Fähigkeiten.

Systemarchitekt für digitale Gesundheit (Digital Health Architect)

Der Systemarchitekt agiert als „Komponist“, der die einzelnen Digitalisierungsprojekte in die von ihm verantwortete Digitalisierungsstrategie eines Krankenhauses, eines Gesundheitszentrums oder Medizinischen Versorgungszentrums, eines Klinikverbunds oder einer Krankenkasse einbettet.

„Der Systemarchitekt ist gleichzeitig Change-Manager, der die großen Linien für die digitale Transformation seiner Einrichtung vorgibt. Er verantwortet die Konnektivität der Systeme, die Einhaltung der Datenstandards, die Aufsicht über Dutzende Einzelprojekte und erschließt dadurch idealerweise Synergiepotenziale“, so Dr. Sebastian Kuhn. Der Jobinhaber müsse über weitreichende Kenntnisse, Fähigkeiten und die Voraussicht verfügen, um eine sinnvolle Regulierungs- und Steuerungsaufsicht ausüben zu können.

Dieses Berufsbild zeichnen hohes medizinisches und technologisches Wissen sowie hohe strategische und kommunikative Fähigkeiten aus. Seine Funktion – etwa als Chief Digital Officer – gibt es in der Regel nur einmal in seiner Einrichtung. „Zum jetzigen Zeitpunkt verfügen Personen, die die beschriebenen Funktionen ausüben, in der Regel über Mehrfachqualifikationen aus dem medizinischen und IT/Management-Bereich. Ein formalisierter Qualifizierungsweg für den Systemarchitekten besteht deshalb nicht, er erfüllt seine strategisch-gestalterische Funktion aufgrund langjähriger Erfahrung innerhalb des Gesundheitssystems“, so der Projektbericht.

Das vierte Rad am Wagen der neuen Gesundheitsberufe – der Arzt für digitale Medizin

Aus Sicht des „Bündnis Junge Ärzte“ (BJÄ) macht erst ein viertes Rad die Fahrt in die Digitalisierung komplett. Es werde sich ein weiteres Berufsbild etablieren: der Arzt für digitale Medizin. Dieser müsse fundierte Kenntnisse über digitale Tools und digitale Gesundheitsanwendungen haben und diese, vergleichbar mit einem Stethoskop, anwenden können.

„Über das Angebot digitaler Tools muss der Arzt für digitale Medizin die Patienten informieren und bei Problemen – egal ob medizinisch oder digital – kompetent beraten können, da Ärzte weiterhin erster Ansprechpartner für Patientinnen und Patienten sein werden“, sagt Max Tischler, Sprecher des BJÄ. Hierfür braucht es aus seiner Sicht Schulungen für Ärztinnen und Ärzte, eine attraktive Vergütung dieser zusätzlichen Leistungen, die Implementation von Digitalkompetenzen in die Aus- und Weiterbildung sowie grundsätzliches Interesse an digitalen Anwendungen. „Hier muss die Expertise von jungen Ärztinnen und Ärzten aus der unmittelbaren Patientenversorgung und gleichzeitig ihr Know-how als ‚digital natives’ genutzt werden“, sagt Max Tischler.

 

Begleitendes Interview zum Beitrag mit Univ.-Prof. Dr. med. Sebastian Kuhn

 

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