Welche Fragen müssen aus Sicht der Patienten im Mittelpunkt stehen, wenn es um die Gestaltung der Digitalisierungsprozesse im Gesundheitswesen geht? Was erleben die Patienten derzeit als schwierig?
Probleme bereiten vor allem die Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Zum Beispiel beim Entlassmanagement. Da werden Anträge für die Reha nicht rechtzeitig gestellt, der Arztbrief ist nicht da, von in der Klinik oder Fachärzten verordneten Medikamenten weiß der Hausarzt nichts. Weil die sogenannte Patientenjourney nicht stringent unterstützt wird und nicht für alle Beteiligten transparent ist, sitzt der Patient dann zwischen den Stühlen. Insgesamt stellen wir eine mangelnde sektorenübergreifende Versorgung fest: die Koordination und Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Behandlern und Gesundheitseinrichtungen, aber auch innerhalb der Einrichtungen entspricht weder den Anforderungen aus Patientensicht noch den digitalen Möglichkeiten. Gerade die Digitalisierung könnte da einen großen Beitrag leisten, zum Beispiel, weil sie über eine elektronische Patientenakte (ePADigitale Akte unter Datenhoheit des Patienten … mehr erfahren) die Informationen für alle Behandler sofort verfügbar macht und dadurch Probleme und Fehlversorgung deutlich reduziert. Heute weiß der eine Arzt nicht was der andere Arzt gemacht oder verordnet hat. Das dies eine Quelle für viele Fehler ist, liegt auf der Hand.
Fehlende eHealth-Strategie und mangelnde Aufklärung als Ursachen für fehlendes digitales Commitment der Ärzteschaft
Sehen Sie diesbezüglich die politisch Verantwortlichen oder die Handelnden im Gesundheitswesen in der Pflicht?
Die Versorgung sollte Hand in Hand laufen, damit das besser funktioniert. Dafür müssen Politik und Selbstverwaltung den Rahmen schaffen. Es braucht dringend ein gemeinsames Commitment zwischen Politik und Gesundheitswesen. Das sieht man auch an dem Brandbrief der KBV gegen die TelematikinfrastrukturSicheres digitales Netz des deutschen Gesundheitswesens … mehr erfahren und die ePA an die Politik. Der Dissens betrifft zum einen technische Fragen, aber prominent zum anderen auch, dass der Ärzteschaft der Nutzen der Digitalisierung nicht wirklich klar ist. Da fehlt es an Aufklärung und Information in Richtung Ärzteschaft und Bevölkerung gleichermaßen darüber, welche Vorteile die Digitalisierung mit sich bringt. Bemängeln muss ich aber auch das Verfehlen der Politik in Bezug auf eine eHealth-Strategie. Estland und Dänemark haben zum Beispiel eine derartige Digitalisierungsstrategie. Die fehlt in Deutschland und es holt uns jetzt ein, dass den im Gesundheitswesen Beteiligten nicht klar ist, warum wir das machen und was das überhaupt bringt. Dabei ließe sich das auf ein bis zwei Seiten einfach und verständlich darlegen, und zwar für alle Beteiligten. Wenn ich keinen Fahrplan habe und der Zielbahnhof nicht bekannt ist, brauche ich mich nicht wundern, wenn keiner in den Zug steigen will.
Wenn das so einfach ist, warum passiert das nicht?
Das frage ich mich auch. Es macht aber auch wenig Sinn, eine Strategie ohne das Bundesministerium für Gesundheit zu machen. Aber dort ist man überzeugt, dass man dies nicht braucht und dies den Fortgang nur behindern würde. Ich verstehe das nicht, vor allem da die Länder, die viel weiter als wir sind, eine derartige eHealth-Strategie entwickelt haben und diese als Grundlage für ihr Handeln nutzen.
Meilenstein Digitalisierung – ab dem 01.01.2021 haben Patienten Anspruch auf die elektronische Patientenakte (ePA)
Sehen sie Bereiche, in denen schon Einiges gut bis zufriedenstellend läuft?
Den Prozess, wie digitale Gesundheitsanwendungen, also die Apps auf Rezept, in die Erstattung kommen, halte ich für sinnvoll und gut. Auch in Bezug auf die zahlreichen Anforderungen, wie z.B. an den Datenschutz und die Datensicherheit. Prima finde ich, dass man jetzt endlich mit der ePA startet und als Patient ab 01.01.2021 das Anrecht hat, diese beim Arzt und in der Klinik anlegen zu lassen. Auch wenn die ePA am Anfang mit ihren nicht strukturierten Daten keinen Wow Effekt auslösen wird – wichtig ist, dass es endlich los geht!
Und wo sehen sie die kritischsten Punkte?
Da sind zwei Dinge zu nennen: Erstens müsste es eine bessere Aufklärung geben, vor allem für die wenig digital-affinen Zielgruppen, die den größten Nutzen davon haben, wie ältere und chronisch Kranke. Gerade die aber haben wenig Zugang und Kompetenz für digitale Lösungen. Hier gibt es erst wenige Aufklärungsmaßnahmen, auch in Richtung Ärzteschaft, die sich zu wenig informiert fühlt, wie eine Umfrage der BARMER gezeigt hat. Demnach fühlen sich 56 Prozent schlecht für die Beratung rund um die Apps gewappnet.
Und zweitens?
Nachholbedarf besteht auch in Bezug auf digitale Anwendungen, die genau das zum Thema machen, wo wir Versorgungsprobleme haben. Ich würde mir wünschen, dass sich Hersteller von digitalen Anwendungen künftig noch mehr die Frage stellen, was es braucht, um unzureichende Prozesse im Gesundheitswesen digital besser zu machen und zu unterstützen, wie recare und m-doc. Bei solch einer Bestandsaufnahme kann auch das Sachverständigengutachten helfen. Das findet noch zu wenig statt. Dazu kommt das fehlende Commitment der Standesvertretungen der Ärzteschaft, also die Bereitschaft, sich dem Thema objektiver anzunähern. Man könnte auch mehr von den Erfahrungen lernen, die im Ausland gut und auch nicht gut laufen, um es besser zu machen.
Es ist Aufgabe der Patienten, verstärkt digitale Lösungen einzufordern
Wie ließe sich das, was nicht gut läuft, ändern?
Etwa durch systematische Aus- und Weiterbildungsangebote für Ärzte, damit sie auch bei eHealth Patienten kompetent zur Seite stehen können. Den Widerstand brechen, wird man nur durch Aufklärung und überzeugende Kommunikation sowie Versachlichung. Patienten wünschen sich ja mehr Digitalisierung und sie müssten den Prozess mehr treiben und Lösungen einfordern, zum Beispiel bei den Hausärzten. Die können sich dem dann auch nicht mehr so gut widersetzen, wenn die Patienten das mehrheitlich einfordern. Weniger Lifestlye-Apps sondern Lösungen, die schlechte Versorgungsprozesse verbessern, das wäre zudem sinnvoll und erforderlich. Außerdem ist es schon fünf nach Zwölf, was Unterstützung und Schulung konkret für ältere und chronisch kranke Patienten anbelangt, um deren digitale Kompetenz zu verbessern, auch in Bezug auf die ePA.
Anwendungen der Telematikinfrastruktur können die Patientensicherheit erhöhen
Welche Rolle spielen die Anwendungen der Telematikinfrastruktur?
Die auf den Karten gespeicherten Daten wie der elektronische Medikationsplan und der Notfalldatensatz sind sehr wichtig und sinnvoll für eine gute Gesundheitsversorgung. Beim Medikationsplan halte ich den Nutzen für extrem groß, da jährlich allein 250.000 vermeidbare Krankenhauseinweisungen aufgrund von Medikationsfehlern bestätigt sind. Die wenigsten Patienten haben einen Medikationsplan. Der ist zukünftig fester Bestandteil der eGKChipkarte für die Identifikation der Versicherten innerhalb der Telematikinfrastruktur … mehr erfahren. Dann passiert es nicht mehr, dass Arzt A nicht weiß, was Arzt B und C verordnet haben. Da besteht ein riesiges Verbesserungspotenzial für die Patientensicherheit. Das betrifft auch den elektronischen Notfallpass, der Rettungskräften wichtige Informationen zur adäquaten Notfallversorgung liefert.
Portale und vertrauenswürdige Einrichtungen dienen Patienten als Informationsquellen
Wie sollten Patienten/Versicherte an das Thema herangehen, um möglichst viel Nutzen aus den Digitalisierungsprozessen zu ziehen?
Sie sollten sich selbst gut über digitale Anwendungen, die Behandlung und das Management ihrer Krankheit verbessern können, informieren. Und sie sollten sich Beratung und Unterstützung einholen, wenn sie nicht weiterkommen. Patienten müssen wissen, worauf sie achten müssen bei Informationen, die sie sich über das Internet holen. Zum Glück kommt ja das nationale Gesundheitsportal zum Ende des Jahres 2020, wenn auch in abgespeckter Form. Aber da ist ja dann trotzdem schon Einiges zu finden. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung besserer Orientierung.
Wie sollen Patienten/Versicherte den Überblick in der Vielzahl der Angebote behalten?
Patienten sollten sich bei vertrauenswürdigen Einrichtungen und Portalen informieren und zudem auch Beratung einholen – z.B. beim Arzt, der Unabhängigen Patientenberatung (UPD) oder der „Weissen Liste“, die Transparenz über digitale Anwendungen herstellt.
Werden sich die hilfreichsten Anwendungen durchsetzen, oder diejenigen, die am lautesten sind?
Ich sehe da eine Mischung von beidem. Anwendungen, die über ein gutes Marketingbudget verfügen, sind erst mal im Vorteil. Ich würde mir natürlich wünschen, dass sich die Anwendungen mit dem größten Nutzen und hoher Anwenderfreundlichkeit durchsetzen.
Gerade ältere Menschen können oft die Vorteile der Digitalisierung nicht nutzen, obwohl diese am meisten davon profitieren würden
Ist es für Patienten/Versicherte möglich, ohne Smartphone die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen?
Affinität und Transparenz, aber auch entsprechende aktuelle Betriebssysteme sind eine Voraussetzung, um die Vorteile der Digitalisierung nutzen zu können. Gerade die Corona-App zeigt ja, dass die Personengruppe, die am meisten profitieren könnte, nicht in deren Nutzen kommt, weil zum Teil alte Smartphones verwendet werden. Das setzt sich leider mit Sicherheit bei künftigen Anwendungen fort. Bestimmte Anwendungen laufen auf älteren Betriebssystemen aus Sicherheitsgründen einfach nicht. Hinzu kommt dann noch, dass vor allem in Regionen mit schlechter Infrastruktur besonders viele ältere Menschen wohnen. Die dürfen nicht abgehängt werden. Der Altersbericht der Bundesregierung zeigt leider, dass dies schon passiert ist.
Wie steht es um die Transparenz im deutschen Gesundheitswesen? Oft hört man: Ärzte, Krankenhäuser und Kassen möchten keine Transparenz. Stimmt das so?
Da besteht durchaus ein Unterschied zwischen stationärem und ambulantem Bereich. Kliniken müssen über Qualität berichten, im ambulanten Bereich fehlt das leider. Da gibt es kaum Transparenz über niedergelassene Ärzte und Praxen in Bezug auf Behandlungsschwerpunkte und Ausstattungen, oder welcher Arzt mit welcher Behandlung besonders viel Erfahrung hat. Da fehlt auch die Transparenz über die Ausstattung der Praxis und die Qualität der Versorgung. Da gibt es so gut wie keine Informationen. Kein Wunder fällt es Patienten sehr schwer, die Orientierung zu behalten. Das führt dann dazu, dass sie keinen flüssigen Behandlungsprozess über verschiedene Behandler hinweg erkennen. Die Komplexität des Versorgungswesens müsste daher als erstes deutlich reduziert werden. Dabei können Projekte wie die „Weisse Liste“ die Transparenz in Bezug auf Ärzte und Kliniksuche verbessern. Auch das Start-Up „Was hab’ ich?“ unterstützt da, etwa in Bezug auf Verständlichkeit von Arztbriefen. Diese Vorzeigeprojekte machen deutlich, wie die Transparenz weiter verbessert werden kann. Das müsste wesentlich bekannter und mehr gefördert werden.
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Eine Antwort
– Bitte von anderen vergleichbaren Ländern lernen, wohlwissend das jeder Land seine Eigenarten hat
– TI ist nur die Voraussetzung, das wichtige und komplizierte kommt noch
– Es sind noch keine konkreten Datenaustauschformate definiert !
– Auf jeden Fall bereits vorhanden internationale Standards und Richtlinie verwenden
– Es ist nicht alles Technik, auch das Vorgehen für solche eHealth-Projekte ist erfunden aber trotzdem hoch komplex
– 2021 ist völlig unrealistisch, wenn man jetzt Gas gibt sollte es für frühestens 2025 realistisch sein